
Die Geschichte einer kleinen Kirchenglocke.
„Unsere Glocke stammt aus Schlesien. Sie wurde von Flüchtlingen oder Vertriebenen auf deren Treck mit einem Pferdefuhrwerk in den Jahren des zweiten Weltkrieges aus ihrem Heimatort mitgebracht in der festen Absicht, an ihrem Zielort eine neue Gemeinde der Gläubigen zu bauen. ‚Wo immer wir landen, wird diese Glocke Zeichen der Verkündigung sein und Zeugnis geben für unseren Glauben und Willen, als evangelische Christen eine Gemeinschaft zu sein.‘ So dachten diese Menschen und kamen nach Wursterheide, einen kleinen Ort in der Nähe der Wurster Nordseeküste, jedoch auf kargem Sandboden, wo das Leben schwer war. Sie bewahrten die Glocke auf, bis endlich 1959 in der Tat im neuen Heimatort eine Kirche gebaut wurde und die kleine Glocke in den Turm gehängt werden konnte. So scholl sie mit hohem Schlagton (des‘‘‘) über Jahrzehnte in den Ort zum Gottesdienst sowie morgens um 7:00 Uhr und abends um 18:00 Uhr zum Gebet.“
Eine wahrlich sehr schöne Geschichte, die die Christen in Wursterheide und später in Nordholz gerne erzählten und die zu Herzen geht. Ist sie aber wirklich wahr oder eine Legende?
Das 50jährige Bestehen der jungen Kirchengemeinde Nordholz am 14. Januar 2018 ist Anlass, etwas intensiver zu recherchieren, was uns die kleine Glocke wirklich zu erzählen hat, die sich nach langer Reise heute in der neuen Nordholzer Kirche etwas ausruhen darf. Dort dient sie uns aber noch immer vor jedem Gottesdienst mit einem Schlag.
Machen wir uns also auf den Weg, die Reise nachzuvollziehen und schauen uns die Glocke erst einmal näher an:
35 kg schwer mit einem Durchmesser von 375 mm und einer Höhe von 385 mm; gegossen aus Bronze, einer Legierung aus mind. 60 % Kupfer mit Blei, Zinn, Aluminium, Silicium.
Die Inschrift ist gut zu lesen:
1932 Gemeindepate Sorka, Kath. Arbeiterverein Schreibersort
1934 Glockengießerei OTFTO Hemelingen Bremen
Daraus ist zu anzunehmen, dass eine Stifterin namens „Sorka“ sich 1932 entschloss, diese Glocke anfertigen zu lassen und dem Katholischen Arbeiterverein in Schreibersort zu schenken.
„Sorka“ ist eine allgemeine slawische Kurzform des Vornamens Seraphine.
Katholische Arbeitervereine entstanden bereits im 19. Jahrhundert und waren Einrichtungen der Katholischen Arbeiterbewegung, die sich -kirchlich geleitet- für die Arbeiterinteressen im Sinne eines christlichen Milieus einsetzten. Sie waren zunächst meist nicht politisch engagiert.
Sie übernahmen jedoch geistliche Betreuung und Bildungsaufgaben. Sie setzten sich teilweise auch von der aufkommenden Gewerkschaftsbewegung ab und galten im Dritten Reich meist als unpolitisch.
Welchem Zweck die Glocke dienen sollte und an welchem Gebäude sie installiert wurde, bleibt noch im Nebel der Geschichte. Recherchen hierüber sind im damals deutschen Oberschlesien, heute Republik Polen, sehr schwierig, da Zeitzeugen nicht mehr zu finden sind.
Die genannte Ortschaft „Schreibersort“ hat eine wechselvolle Geschichte.
Ursprünglich hieß der Ort in Oberschlesien Pissarzowitz (1874) und gehörte als Landgemeinde zum Amtsbezirk „Schloß Tost“. 1931 wurde die Siedlung umbenannt in Schreibersort und wurde mit seinen 505 Einwohnern dem Landkreis Tost-Gleiwitz zugeordnet. 1945 kam Schlesien bekanntlich unter polnische Verwaltung, und die Deutschen wurden, soweit sie nicht geflüchtet waren, vertrieben. Der Name wurde in Pisarzowice geändert und 1950 der Woiwodschaft Katowice (Kattowitz) zugeordnet. Heute lautet die Lagebeschreibung: Pisarzowice, Gemeinde Toszek, Powiat Gliwicki, Woiwodschaft Schlesien in Polen. Pisarzowice liegt ca. 20 km nordwestlich der Kreisstadt Gliwice (Gleiwitz) und 39 km nordwestlich der Woiwodschaftshauptstadt Katowice (Kattowitz). Der Ort hat jetzt ca. 400 Einwohner.
Was hat nun aber die großzügige „Sorka“ und ihre Gemeinde oder ihren Verein dazu bewogen, den Guss der Glocke im fernen Hemelingen (bei Bremen) in Auftrag zu geben und nicht in Schlesien? Gießereien hat es in diesem erzreichen Gebiet bestimmt gegeben.
Vielleicht war man sehr anspruchsvoll, denn „Glockengießerei F. Otto Hemelingen“ galt als eine der ersten Adressen unter den zahlreichen deutschen Gießereien, und Bremen war bereits seit dem Mittelalter ein europäisches Zentrum des Glockengusses. Otto fertigte seit 1874 bis zur Einstellung des Betriebs1974 wahrscheinlich fast 10.000 Glocken. Zu den wichtigsten gehört das fünfstimmige Geläut aus dem Jahre 1898 für St. Josef in Krefeld mit seiner Hauptglocke („Dicke Anna“) mit einem Gewicht von ca. 4.400 kg. Diese Glocken gelten nebem denen des Frankfurter Doms und der Dresdener Kreuzkirche als die bedeutendsten Geläute des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Das größte Geläut von Otto entstand 1951 für den Trierer Dom mit einem Gesamtgewicht von 23.340 kg.1962 wurde die große Glocke des Bremer Doms, die ca. 7.000 kg schwere „Brema“, angefertigt.
Es scheint also so, als wäre Sorka für ihre Gemeinde die höchste Qualität und nur das beste Renommee gerade gut genug erschienen.
Und so begann 1934 der erste Teil der Reise unserer bescheidenen Glocke in Hemelingen, gar nicht weit von uns entfernt.
Wie das Dasein der Glocke dort in Oberschlesien war und welche Verhältnisse sie dort umgaben, ist leider nicht bekannt. Ihr Dienst zur Verkündigung wurde jedenfalls in den Jahren des zweiten Weltkrieges irgendwann abrupt beendet. Wann genau sie der Beschlagnahme durch die Nazi-Herrschaft für die Rüstungsindustrie zum Opfer fiel, wissen wir nicht. Kurz nach Kriegsbeginn fielen die Metall-Rohstofflieferungen aus Übersee aus. Die Bezugsmöglichkeiten aus teilweise besetzten Nachbarstaaten reichten nicht für die enorme Waffenproduktion. So wurden ab 1940 im Auftrag des Reichswirtschaftsministeriums von der Reichsstelle für Metalle im Rahmen der „Metallspende des deutschen Volkes“ Kirchenglocken, Denkmäler und andere Metallgegenstände requiriert und den Hüttenwerken gegen Bezahlung an das „Reich“ zum Einschmelzen für die Waffenproduktion übergeben.
Das Zentrum der Einschmelzung war in Hamburg bei der Norddeutschen Affinerie und den Zinnwerken Wilhelmsburg. Zwischengelagert wurden die zwangsweise ausgebauten Kirchglocken zunächst im damals sog. „Glockenlager“ in Hamburg-Veddel, später „Glockenfriedhof Hamburg“. Insgesamt wurden ca. 90.000 Glocken aus Deutschland und den besetzten Gebieten nach Hamburg geschafft und 70.000 davon eingeschmolzen. Es gab eine oberflächliche Einteilung in A-, B- und C-Glocken, je nach historischer Bedeutung. Unsere Glocke gehörte zu den A-Glocken, die zuerst eingeschmolzen werden sollten, weil sie von geringem kulturellen Interesse waren.
In den Glockenlagern, also auch in Hamburg, wurden die Glocken nicht sehr sorgsam behandelt, teilweise sofort zu Glockenbruch zerschlagen oder auf einer riesigen Freifläche zu Haufen gestapelt, viele davon durch Bombenangriffe zerstört.
Warum unsere kleine Glocke, die ebenfalls nach Hamburg verbracht wurde, dieses Inferno „überlebte“, wissen wir nicht. Womöglich ist sie erst kurz vor Kriegsende requiriert worden oder hat einfach Glück gehabt.
Übrigens ereilte die Glocken im Kirchenkreis Wesermünde-Nord ein ähnliches Schicksal. Ahnend, dass er nicht mehr lange die Beschlagnahme der teilweise sehr alten und wertvollen Glocken im Land Wursten würde verhindern können, ließ der damalige Superintendent Jantzen am Heiligen Abend 1941 alle 57 Glocken des Landes zur gleichen Zeit läuten. Wenige Monate später waren 21 davon aus den Türmen geholt und auf dem Glockenfriedhof in Veddel gestapelt worden. Glücklicherweise kehrten alle zurück, und wir können heute noch ihrem wundervollen Ton lauschen. Und sie wurden noch ergänzt durch eine kleine Glocke aus Schlesien.
Nach Kriegsende lagerten auf den verschiedenen Glockenfriedhöfen in Deutschland noch rund 13.400 Glocken, die der Verhüttung für Militärzwecke entgangen waren. Zur Sicherstellung dieser Glocken wurde 1947 von den alliierten Behörden ein „Ausschuss für die Rückführung der Glocken (ARG)“ eingesetzt. Den Vorsitz übernahm Oberlandeskirchenrat im Landeskirchenamt Hannover, Christhard Mahrenholz. Bis 1953 wurden sämliche Glockenlager geräumt und die Glocken, soweit noch feststellbar, über Sammellager an die früheren Gemeinden übergeben.
Etwa 1.300 Glocken aus den polnisch und sowjetisch besetzen Gebieten jenseits von Oder und Neiße (also auch Schlesien) wurden zunächst von der britischen Militärregierung beschlagnahmt und dem ARG zur Verwaltung überlassen. Die spätere deutsche Zivilverwaltung hob die Beschlagnahme auf und ließ die Glocken, soweit keine Rückführungsansprüche feststellbar waren, als sog. „Patenglocken“ von der ARG leihweise an Kirchengemeinden in Westdeutschland übergeben.
Diese Vorgänge sind offensichtlich einem Pastor Wehmeyer in Midlum (Land Wursten) nicht verborgen geblieben, der sich auch um die evangelischen Christen in Wursterheide kümmern musste, was sicher nicht einfach war. Er besprach sich mit dem damaligen Superintendenten Jantzen in Dorum, der Erfahrungen mit dem ARG hatte (s.o.), ob es wohl die Möglichkeit gäbe für den Ort Wursterheide eine Glocke zu „ergattern“, um der Verkündigung dort Nachdruck zu verleihen. Jantzen sagte Unterstützung zu, und so schrieb Wehmeyer am 18. Dez. 1950 einen Brief im Namen des Kirchenvorstands Midlum an das Landeskirchenamt der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers und nahm dabei mutig Bezug auf eine fernmündliche Mitteilung des Herrn Superintendenten Wesermünde-Nord:
Kirchenvorstand Midlum begrüsst sehr die Möglichkeit, für die Tochtergemeinde Wursterheide kostenlos und leihweise eine Kirchenglocke überlassen zu bekommen.
Der Ort Wursterheide hat sich aus den Überbleibseln eines im 1. Weltkrieg entstandenen und nach dem Krieg geschleiften Luftschiffhafens allmählich entwickelt. 1939 wohnten dort bereits ca. 700 Einwohner. Im Zeichen der damaligen Aufrüstung wurde auch dieses Ortsgelände von Marine und Luftwaffe wieder als Flugplatz ausgebaut. Heute zählt der Ort ca. 1.450 Einwohner. Hinzu kommt eine DRK-Krankenanstalt mit ca. 700 Patienten und Personalangehörigen. Sozial und wirtschaftlich und nicht zuletzt kirchlich ist dieser Ort (mit ca. 75 % Erwerbslosen!) ein N o t s t a n d s g e b i e t, zumeist bewohnt von Flüchtlingen …
… Von 1932 bis 1942 bestand eine eigene Kapellengemeinde, die dem hiesigen Pfarramt angeschlossen war. Sie ist dann in die Mutterkirche Midlum aufgegangen. Die Gottesdienste (alle 14 Tage) werden in der Schule gehalten. Die Gemeindevertretung (polit.) erklärte sich heute auf Befragengen bereit, einen Platz zur Errichtung eines Glockengerüstes zur Verfügung zu stellen. Kirche und Pfarre erwächst die bedeutsame Aufgabe, der weithin entwurzelten und zusammenhanglosen Bevölkerung dieses Ortes in ihren materiellen und seelischen Nöten durch die Verkündigung des Evangeliums Hilfe, Wegweisung und Gewissheit zu geben. Um sie zu rufen, damit Gemeinde würde, wären wir für den Dienst der Glocke dankbar. Von einer finanziellen Leistungskraft und –fähigkeit kann mit Blick auf Wursterheide kaum gesprochen werden. Auch ist die Kirchengemeinde als ganze finanziell sehr schwach. Trotzdem muss versucht werden, eine Kirchenglocke in Wursterheide zum Läuten zu bringen. Darum bittet der Kirchenvorstand sehr, für Wursterheide eine Kirchenglocke zur Verfügung zu stellen.
Fast zwei Jahre später, am 23. Dez. 1951, ging dann fast wie ein Weihnachtsgeschenk die Antwort der Landeskirche vom 15. Dez. beim Kirchenvorstand Midlum ein:
Wir können dem Kirchenvorstand zu unserer Freude mitteilen, dass es möglich geworden ist, der dortigen Kirchengemeinde eine Leihglocke (sogenannte Patenglocke) zuzuteilen. ….
Die Patenglocken werden von dem Ausschuss für die Rückführung der Kirchenglocken (Transportkommision) … zu treuen Händen übergeben. (Dann folgen Hinweise auf und Belehrungen über die Behandlung der geliehenen Glocken sowie die Kostenverteilung.) … Wir machen die genaueste Beachtung der Vorschriften der Kirchengemeinde zur Pflicht.
Und dann ging alles mit erstaunlicher Geschwindigkeit voran. (Ich weiß nicht, ob die Kirchenbehörden heute ein gleiches Tempo einhalten könnten.) Bereits am 20. Dez. 1951 erfolgte die Mitteilung der Transportkommission Hamburg (ARG) an das Sammellager in Emden, dass eine Glocke mit der Nr. 25-5-111 aus dem Kreis Gleiwitz mit einem Gewicht von 53 kg und einem Durchmesser von 45 cm nach Emden (vermutlich per Schiff) verladen worden sei. Das Sammellager wurde angewiesen, diese Glocke umgehend an den Empfangsort Midlum-Wursterheide weiter zu transportieren. Am 24.12. vereinbarte die Emder Verkehrsgesellschaft AG –See- und Binnenschiffahrt- den Weitertransport, die Verpackung, die Versicherung und die Kosten mit dem Kirchenvorstand. Die Weiterfahrt sollte per Bahn mit dem Zielbahnhof Cappel-Midlum erfolgen. Bereits am 29.12. unterzeichnete Pastor Wehmeyer die Quittung, die Glocke Nr. 25-5-111 aus Gleiwitz zu übernehmen, die dann am 02. Januar 1952 nach Cappel-Midlum rollte. Wer sie dort abholte und wie, ist nicht überliefert.
Fest steht jedoch, dass sie am Südgiebel der Wursterheider Schule, wo ja auch die Gottesdienste 14-tägig stattfanden, montiert wurde. Sie läutete zum ersten Mal nach der Beschlagnahme in Schlesien nun in Wursterheide am Sonntag Sexagesemae (17. Febr.) 1952. Dies bestätigen die Aufzeichnungen von Pastor Wehmeyer, und auch die Nordsee-Zeitung berichtete 2 Tage später über dieses Ereignis, mit dem ein „langehegter Wunsch der Einwohnerschaft“ in Erfüllung gegangen sei. Die Glocke aus Gleiwitz sei von „Schmiedemeister Affeldt mit tatkräftiger Hilfe des Bürgermeisters, des Gemeinderates und der Schulleitung“ montiert worden. Der Gottesdienst sei feierlich und gut besucht gewesen.
Allerdings war Pastor Wehmeyer, vielleicht im Taumel der Freude, ein „Parkettfehler“ unterlaufen. Er hatte vergessen, einige wichtige Honoratioren des Ortes besonders einzuladen. Dies nahm man ihm wohl übel, so dass er sofort am Montag nach der Inbetriebnahme einen Brief „an den Herrn Bürgermeister Wursterheide“ schrieb:
Sehr verehrter Herr Kuhl!
Auf ortsübliche Weise hatte ich mit der Bekanntgabe des Gottesdiesntes am letzten Sonntag angezeigt, dass die Glocke zum ersten Male läuten würde. Zu meinem herzlichen und lebhaften Bedauern ist es mir in der Fülle meiner Arbeit entgangen, Sie und mit Ihnen die Glieder des Gemeinderates und den Herrn Schulleiter und Hauptlehrer Heins persönlich und offiziell zu diesem Gottesdienst einzuladen. Ich möchte Sie um Nachsicht bitten.
Im Weiteren lädt er zum kommenden Gottesdienst ein und bedankt sich herzlich für die Unterstützung durch die „vergessenen“ Herren.
Dass die Glocke von den Wursterheidern in Eigenarbeit mit Schmied Affeldt ohne Hinzuziehung von „Experten“ angebracht wurde, wurmte wohl den Herrn Kirchenmusikdirektor und Glockenrevisor der Landeskirche aus Verden, denn er führte 4 Monae später eine Glockenrevision in Wursterheide durch und teilte das Ergebnis dem Kirchenvorstand mit:
Die Kirchengemeinde Midlum-Wursterheide hat eine Patenglocke auf den Ton c‘‘‘ erhalten und sie in Selbsthilfe an der Giebelwand des Schulhauses aufgehängt. Wenn auch ein Glockenmonteur die Arbeit werkgerechter durchgeführt hätte, so ist das Ergebnis der Aufhängung doch befriedigend. Das Läuten, das aus einem Fenstger unterhalb der Glocke vorgenommen werden muss, würde sich leichter gestalten lassen, wenn der Klöppelzapfen etwas verkürzt wäre. Die Lage der Schwengels, an dem sich das Zugtau befindet, müsste bis zum Drehpunkt so groß sein wie der Durchmesser der Glocke.
Ob dieses „Kompliment“ wohl die freiwilligen Wursterheider „Glockenaufhängungsmontöre“ unter Albert Affeldt erreicht hat? Wenn ja, hätten sie wohl geschmunzelt und auf Plattdeutsch gemurmelt: „Klookschieter!“
So tat die kleine Glocke an der Wursterheider Schule, einem Gebäude auf dem Gelände des Fliegerhorstes Nordholz, treu ihren Dienst. Aber die Zeit blieb ja nicht stehen, und die Entwicklung Wursterheides ging rasant voran, so dass die Reise von „Sorkas Glocke aus Schreibersort“ noch nicht zu Ende war.
In den 50er Jahren kündigte die Bundesregierung die Übernahme des ehemaligen Flugplatzes an, um ihn zu einem Standort der Marineflieger in der neu aufgestellten Bundeswehr zu machen. Dieser Entschluss wirkte sich auf fast alle Bereiche der Gemeinde und der umliegenden Ortschaften drastisch aus. Die Gegend wurde in vielerlei Hinsicht eine riesige Baustelle. Ansiedlungen auf dem Flugplatzgelände mussten weichen und neu errichtet werden. Dies betraf natürlich auch die Schule und die Glocke.
In zentaler Lage wurde ein neues großzügiges Schulgebäude für die Orte Nordholz, Deichsende und Wursterheide errichtet. In Zusammenarbeit von Kirche und Bundeswehr wurde eine Kirche in Wursterheide für die Kirchengemeinde Midlum als „Zweigstelle“ konzipiert. Sie sollte jedoch nicht nur als Gotteshaus dienen, sondern auch als Veranstaltungshalle für weltliche Darbietungen für die durch die Bundeswehr stark wachsende Bevölkerung. So wurde ein sehr schlichter, zweckmäßiger Bau in der Nähe des Militärgeländes errichtet. 1959, als die schweren militärischen Bauarbeiten richtig begannen, wurde sie am 19. Dezember unter dem Namen „Zum Guten Hirten“ geweiht. Die Kirchengemeinde hatte jedoch Wert darauf gelegt, dass das Gebäude einen Turm erhielt, in dem die kleine Glocke ihren nächsten „Arbeitsplatz“ erhielt. Fortan gehörte das Geläut zum hörbaren festen Bestandteil im Tagesablauf der Bürger und begleitete Freud und Leid der Kirchenglieder mit ihrem hohen Ton. Sie erhielt noch größere Bedeutung, als am 14. Januar 1968 die Kirchengemeinde Nordholz „Zum Guten Hirten“ gegründet wurde. Die Kirche folgte damit überwiegend der politischen Entwicklung, die die Gemeinden Nordholz, Deichsende und Wursterheide (später auch Wanhöden) zusammengeführt hatte. Und so wurde die kleine Glocke plötzlich Mittelpunkt für eine der größten Kirchengemeinden im Kirchenkreis mit ca. 2.700 Gliedern.
Die dynamische Entwicklung des Ortes zeigte jedoch, dass sich das Zentrum des Lebens ca. 1,5 km entfernt nahe des Bahnhofs bildete, wo auch schon das Gemeindehaus und das Pfarrhaus der Kirchengemeinde entstanden waren. Unter Würdigung der vorangehenden strukturellen Veränderungen wurde von einem weitsichtigen Kirchenvorstand unter Leitung von Pastor Timme der Plan „Kirche im Zentrum (KIZ)“ entworfen und mit Leben erfüllt: Bau einer neuen Kirche als Anbau an das im Zentrum vorhandene Gemeindehaus und Aufgabe der bisherigen Kirche. Gut vorbereitet und mit großer Zustimmung einer Gemeindeversammlung wurde das Vorhaben mit Unterstützung der Landeskirche und des Kirchenkreises, insbesondere des Superintendenten Bochow, verwirklicht. In Zeiten der Kirchenstilllegungen und –abrisse war dies nach über zehn Jahren der erste Kirchenneubau in der Landeskirche Hannovers. Mit überwältigender Unterstützung nicht nur aus der Kirchengemeinde gelang es dem Kirchenvorstand ca 120.000 Euro an Spenden aufzubringen. Am 10. März 2013 wurde die neue Kirche geweiht. Das bisherige Gotteshaus war an den ortsansässigen Zimmermeister Ronald Wilksen verkauft worden und wurde von ihm zu einem schmucken, soliden Mehrfamilienhaus umgebaut. Lediglich der Glockenturm musste weichen.
War damit auch das Ende der großen Reise der kleinen Glocke besiegelt, womöglich wieder auf einem Schrotthaufen, wie damals in Hamburg? Keineswegs! Der Kirchenvorstand legte großen Wert darauf, das auch in der Bevölkerung teilweise liebgewonnene Inventar in das neue Kirchenzentrum zu integrieren. So wurden Taufstein, große schmiedeeiserne Wandbilder, Altarschmuck, Abendmahlsgeschirr und natürlich die Glocke in die neue Kirche gebracht. Der Glockensachverständige der Landeskirche stellte allerdings fest, dass die Glocke für eine Aufhängung im Turm der neuen Kirche nicht geeignet sei. Daher baute Helmut Kopf einen kleinen Glockenstuhl, der heute die Glocke im Vorraum der Kirche trägt. Sie ist damit nicht nur anfassbares und fühlbares Zeichen von Kontinuität in einer sich verändernden Welt, sondern wird vor jedem Gottesdienst, jeder Taufe, Hochzeit, Trauerfeier einmal angeschlagen. Womöglich mahnt sie die versammelten Christen, das Vergangene in Demut ehrenvoll zu bewahren und Neues beherzt und mit Mut anzugehen.
Und vielleicht bekommt sie ja bald neue Kolleginnen, die im Turm hängen. Die Gemeinde arbeitet daran und spart darauf. Ich glaube, die Stifterin Sorka aus Schreibersort in Oberschlesien würde sich mit uns freuen.
10.09.2017 Peter Oster
Quellen:
- Archiv der Kirchengemeinde Midlum
- Evangelisches Zentralarchiv, Berlin
- Landeskirchliches Archiv, Hannover
- Dipl. Phys. Andreas Philipp, Glockensachverständiger der Ev.-luth. Landeskirche Hannover
- Nordsee-Zeitung, Bremerhaven
- Wikipedia, freie Enzyklopädie
- Zeitzeugen
Heute steht die Glocke im Vorraum der neuen Kirche. Manchmal wird sie von einem Besucher geschlagen. Dann erklingt er wieder, der unverkennbar hohe Schlagton.